Dr. Jens Brandenburg

Bildung gegen Antisemitismus?

Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Dr. Jens Brandenburg besucht Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS Heidelberg)

Dass das deutsche Bildungssystem mit dem Thema Antisemitismus ein Problem hat, ist sicherlich nichts Neues. Dass es aber auch zahlreiche Verbesserungsvorschläge und innovative digitale Ideen gibt, diesem offensichtlichen Missstand entgegenzuwirken, davon konnte sich Dr. Jens Brandenburg, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung, am Dienstag während seines Besuchs der HfJS Heidelberg überzeugen. „Es ist mir ein persönliches Anliegen, hier direkt vor Ort Ihre Eindrücke und Stimmung aufzunehmen. In Berlin habe ich am 9. Oktober bereits mit dem israelischen Botschafter gesprochen, in den folgenden Tagen mit der jüdischen Studierendenunion und weiteren Akteuren. Aber Antisemitismus ist auch hier in meiner Heimat, der Kurpfalz, ein Problem“, so Brandenburg.

Nicht nur von Forschungsinteresse ist beispielsweise der Projektverlängerungsantrag von Rabb. Prof. Dr. Birgit Klein. Hierbei sammeln und analysieren Wissenschaftler:innen jüdische Reaktionen auf Antisemitismus. Da sich die christlich-jüdische Annäherung bisher vor allem auf theologische Fragen beschränkte und auch die Ritualpraxis nach christlichen Begriffen gemessen wurde, zielt das Projekt auf mehr Verständnis und Akzeptanz durch eine ganz persönliche Annäherung. In Kurzvideos erklären Jüdinnen und Juden ihre persönlichen Gründe für bestimmte Rituale – sei es das Tragen einer Kippah, Kaschrut oder Observanz von Schabbat und Feiertagen. Jüdische Praxis und Religiosität erhalten Gesichter und sollen somit (be-)greifbarer werden.  

Begreifbarer machen und näherbringen möchte auch Rawan Osman, eine syrisch-libanesische Studentin der HfJS, die bereits mehrere Jahre als Friedensaktivistin tätig ist, das Thema, das nicht nur sie momentan umtreibt: Israelbezogener Antisemitismus in und aus den arabischen Ländern. „Wir dürfen nicht vergessen, dass viele geflüchtete Kinder und Jugendliche aus islamisch geprägten Ländern mit antidemokratischer Desinformation und einem tief verwurzelten antisemitischen Weltbild aufgewachsen sind“, so Osman. Die antiisraelischen Stereotypen können oft nicht bekämpft werden, wenn Wissen nur in Schulen und vornehmlich auf Deutsch vermittelt werde. „Wir brauchen niedrigschwellige Informationsangebote, akademisch fundiert und ansprechend gestaltet. Und vor allem: auf Arabisch vorgetragen.“ Gemeinsam mit Lukas Stadler, Historiker und Judaist an der HfJS, der bereits für die jüdische Gemeinde Graz eine Broschüre für Antisemitismusprävention verfasste, und David Lüllemann, Masterand an der HfJS, der langjährige Erfahrungen in Schulungen zur Sensibilisierung für Antisemitismus mitbringt, entwickelte Osman „ArabAsk“. Ein Projekt, bestehend aus aufklärenden Kurzvideos für TikTok und Instagram, das sich einzelnen Aspekten umstrittener Themenkreise wie zum Beispiel dem Nahostkonflikt, muslimischem Antisemitismus, Verschwörungstheorien, aber auch antiislamischem Rassismus widmet, und diese auf ansprechende Weise in arabischer Sprache erklärt. Zusätzlich liefert die Beschreibung der Videos Verweise auf wissenschaftliche Literatur in arabischer, deutscher und englischer Sprache. Alle drei Studierende erhoffen sich einen Mitmacheffekt unter arabischsprechenden Menschen in Deutschland, die bisher schwiegen.

Dass die Wissenschaft alleine jedoch nicht vor Antisemitismus und dessen gewaltsamen Auswirkungen schützen kann, weiß Frau Pawelczyk-Kissin, Ehefrau des Heidelberger Gemeinderabbiners. Sie beklagt, dass die Polizei sich nicht an Sicherheitsvereinbarungen hält. „Ich frage mich, ob die Situation bei den ausführenden Personen grundsätzlich durchgedrungen ist.,“ habe sie doch das Gefühl, nicht ganz ernst genommen zu werden. Nach dem Motto: Bisher lief doch alles gut. So wurde beispielsweise Lehrkräfte einer jüdischen Religionsklasse, deren Schulgebäude komplett ungeschützt ist, geraten, sie sollten doch den Unterricht online halten.

Aus Überforderung oder Angst weichen, ist vielerorts die Antwort oder auch der Rat: aufgrund fehlender Schutzmöglichkeiten für jüdische Schüler:innen, an Universitäten, die aus Angst vor Unruhen, auf öffentliche Veranstaltungen zum Thema Nahostkonflikt verzichten und auch vom Hissen der israelischen Flagge abraten. Studierende der Universität Heidelberg verzichten auf Seminare an der HfJS, damit sie nicht in die Räumlichkeiten der Hochschule betreten müssen. So mögen Konflikt- und Gewaltpotenzial für den Moment begrenzt bleiben, dass diese Taktik jedoch komplett in die falsche Richtung geht, darin sind sich alle Anwesenden einig.

Während Frau Pawelczyk-Kissin allgemein für mehr Zivilcourage plädiert, rät Prof. Dr. Johannes Becke, Inhaber des Ben-Gurion-Lehrstuhls für Israel- und Nahoststudien an der HfJS, zu einem umfassenderen Geschichtsunterricht an Schulen. „Gerade die Region südlich des Mittelmeers ist in vielen Schulklassen sehr präsent, die Lehrkräfte jedoch sind hilflos.“ Im akademischen Bereich muss die Interdisziplinarität mehr genutzt werden, so Becke, „man muss über Israel-Palästina, den Elefant im Raum, sprechen.“ Klein stimmt ein, es sei nicht nur wichtig, dass dieses Wissen an wenige Lehramtsstudierende vermittelt werde, die Geschichte des Jüdischen Volkes solle auch grundsätzlich bundesweit in deren Curricula verankert sein, „nicht nur in Geschichte, sondern auch in der Theologie. Das sollte ein bundesweiter Appell an das Verantwortungsbewusstsein der Universitäten sein, um Antisemitismus vorzubeugen.“

Der Parlamentarische Staatsekretär zeigte sich bestürzt von den Schilderungen der Hochschulmitglieder: „Es ist erschreckend, dass sich Jüdinnen und Juden an deutschen Schulen und Hochschulen nicht mehr sicher fühlen. Wir müssen als Staat und Gesellschaft die Bedenken vor Ort ernst nehmen und die Sicherheit in den Einrichtungen gewährleisten.“ Auch müsse Antisemitismus bereits früh in den Schulen bekämpft werden, ergänzte Brandenburg. Hierzu habe sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung zum Ziel gesetzt, Lehrkräfte bei der Präventionsarbeit ganz konkret zu unterstützen. „Diese Arbeit wollen wir in enger Abstimmung mit den Ländern weiter ausweiten und vertiefen“, versicherte er und verwies auf bereits bestehende Projekte wie EMPATHIA, bei dem ein Kerncurriculum zur Antisemitismusprävention für angehende Polizistinnen und Polizisten sowie Lehrkräfte entwickelt wird. Des Weiteren fand hierzu Ende Oktober im Bundesministerium für Bildung und Forschung ein Fachgespräch zu „Antisemitismusprävention in der Bildung“ statt, an dem neben der Kultusministerkonferenz und dem Zentralrat der Juden auch Vertreter aus Forschung, Praxis und Zivilgesellschaft teilgenommen hatten.

Text: HfJS Heidelberg